Foto: Reinhard Winkler
Wie viele CDs finden sich bei Ihnen zu Hause im Regal, die Spuren hinterlassen haben und die Sie über mehrere Jahre immer wieder anhören? Eine davon ist für mich die Produktion `Nature Morte´ (poem by Joseph Brodsky) von Simon Nabatov und seinem Quartett mit Phil Minton, Frank Gratkowski und Nils Wogram. Das Klangkonzept dieser Produktion, die klangmalerische Qualität, das kunstvolle Ineinandergreifen von Komposition und Improvisation, sowie die Ausdruckskraft der dunklen und tiefen Männerstimme, die fließend zwischen Sprech- und Gesangsstimme wechselt, sind einige der faszinierenden Facetten, die mich immer wieder zu dieser CD greifen lassen.
Mit Manfred Mitterbauer begegnete mir ein Sänger, dessen Stimme mich einige Male überraschend an Nabatovs Produktion mit Phil Minton erinnerte. Durch die Zusammenarbeit mit ihm in kleineren Projekten und der dadurch gewonnenen Erkenntnis, wie virtuos menschliche Stimme einsetzbar sein kann, war für mich klar: wenn ich ein Projekt mit dem Instrument `Stimme´ planen will, dann muss es die von Manfred Mitterbauer werden. Über dem Inhalt einer gemeinsamen Arbeit war angesichts der vielen Möglichkeiten zunächst ein Fragezeichen. Es brauchte einige Zeit um letztendlich den Mut zu fassen, eines der meist gespielten, häufigst aufgenommenen und vielfältigst interpretierten Werke der klassischen Gesangsliteratur, nämlich Franz Schuberts Winterreise für unsere erste größere Zusammenarbeit aufzugreifen. Zu Klangkonzept und Instrumentierung hatte ich relativ rasch eine klare Vorstellung. Ausgehend von tiefer Männerstimme, Trompete und einem mich schon lange faszinierenden Instrument, der Marimba, mit ihrem dunklen, percussiven und schnell verklingenden Sound brauchte ich etwas Tragendes, Flächiges. Diese Überlegung führte mich zur E-Gitarre als einem mit seinen Klangfarben individuell einsetzbaren Klangelement und zum E-Bass als Fundament für harmonische und rhythmische Strukturen.
Im Kompositionsprozess selbst galt meine Aufmerksamkeit vorerst nicht vorrangig der Klavierstimme Franz Schuberts. Entscheidend für das Erspüren der Atmosphäre der 24 Lieder waren für mich die Bilder, die in den Texten von Wilhelm Müller enthalten sind. Erst die Erfahrung, nach ersten `Gehversuchen´ das Vertrauen fassen zu können, einen persönlichen Zugang zu finden, - ohne dabei als Bearbeiter von Schuberts Klavierpart zu agieren - erlöste mich von der anfänglichen Unsicherheit.
CD Linernotes von Roger Vignoles
Nebensonnen ist ein Hörerlebnis der ganz besonderen Art, eine radikale Bearbeitung von Schuberts Winterreise in der modernen Sprache des Jazz. Am Beginn ist noch eher Zurückhaltung zu spüren und die Grundzüge des ersten Liedes, Gute Nacht, sind noch eindeutig erkennbar. Mit der Einleitung zum zweiten Lied, Die Wetterfahne, erfahren jedoch Rhythmus, Melodie und Harmonie eine wilde Verzerrung, in der einzig und allein Schuberts melodischer Leitfaden durchgehend erhalten bleibt. Ab hier wird auf jegliche offensichtliche Ähnlichkeit zu Schuberts Klavierpartien verzichtet, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen - einem unheimlichen Gitarrenecho der Triolen in Der Lindenbaum, einer Trompetenversion des Posthorns in Die Post und (wieder, äußerst bewegend, mit Trompete) der schaurigen, eindringlichen Melodie in Der Leiermann, mit dem der Zyklus endet. Unterdessen verkörpert Manfred Mitterbauers sonorer, ausdrucksstarker Bass-Bariton beredt die Seele von Schuberts (und Müllers) Originalzyklus, jedoch vor dem Hintergrund einer sich zunehmend auflösenden, halluzinatorischen Landschaft heraufbeschworen durch E-Gitarre, Bass, Marimba, Percussion und Trompete des Ensembles Zeit_ Sequenzen.
Puristen mögen das Fehlen von Schuberts Klavierpartien beklagen. Dafür entschädigt sie Komponist Manfred Paul Weinberger damit, dass er die expressionistischen Aspekte von Wilhelm Müllers Lyrik und dessen bizarren Humor hervorhebt, indem er die Gesangspartien stellenweise bis hin zum Sprechgesang verzerrt, oder (wie etwa in Im Dorfe) indem er den Hintergrund auf eine beängstigende Abfolge von lautmalerischem Kratzen, Rasseln, Knarren und Quietschen reduziert. Weinbergers Trompete wird sparsam aber wirkungsvoll eingesetzt, sei es als gefühlvoller Kontrapunkt zum frostigen Zusammenspiel von Marimba und Gitarre, oder auch um Momente rhythmischer Dramatik noch stärker spürbar werden zu lassen. Fließen nun auch noch die überirdisch klingenden elektronischen Effekte ein, dann hat sich eine Winterlandschaft wohl kaum je so rau und kalt angehört.
Halluzinatorisch, expressionistisch, quälend – aber auch bewegend, vor allem im vorletzten Lied, von dem der Titel dieser Version stammt. Getragen von einer trübsinnigen, elegischen Melodielinie für Bass und Trompete sowie von Mitterbauers ergreifendem Klagen über das Sterben des Lichts schließen Die Nebensonnen den emotionalen Kreis. In der Tradition moderner Bearbeitungen wie etwa Picassos Variationen der Meninas von Velázquez verdient Nebensonnen auf ganz eigene Weise gehört zu werden, als Hommage an Schubert einerseits und als Erweiterung von Schuberts Original andererseits.
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